Die 4 brüchigen Säulen des Nordischen Modells

Dieser Artikel beschreibt die Methoden, mit denen die Verfechter*innen des Nordischen Modells Stimmungsmache betreiben und auf Stimmenfang von potenziellen Unterstützer*innen gehen, ohne es mit Fakten und Wahrheit so genau zu nehmen.

1. Zahlenspielereien

Um die vorgebliche Dringlichkeit eines Sexkaufverbotes darzustellen, werden Zahlen erwähnt, die von der Polizei stammen. Hier sind besonders die Pensionäre Manfred Paulus und Helmut Sporer aktiv, die lange Zeit mit der Rotlichtkriminalität beschäftigt waren und angeben, dass 80 bis 95 Prozenz der Prostituierten unter Fremdbestimmtheit oder Zwang arbeiten.
Die große Frage dabei ist, für welche Zahl der Prostituierten diese Prozentzahlen gelten. Nur für die, die im Umfeld der Rotlichtkriminalität auftreten? Oder für sämtliche der in Deutschland geschätzten 400.000 Prostituierten?
Während Helmut Sporer einmal erwähnte, dass er hauptsächlich den Straßenstrich und die großen Massenbordelle im Auge hat, tun die Verfechter*innen des Nordischen Modells so, als würden 95 Prozent aller Prostituierten Deutschlands (also sämtliche hauptberuflichen, nebenberuflichen und gelegentlichen Prostituierten zusammen) unter Zwang arbeiten.
Dies ist zu hinterfragen.
Laut einer Befragung finanzieren 3,7% der Berliner Studierenden ihr Studium durch Prostitution. Rechnet man diese Zahl hoch auf die knapp 3 Millionen Immatrikulierten in Deutschland, kommt man auf über 100.000 studierende Prostituierte. Diese wird man aber sicherlich nicht im Straßenrand oder in Großbordellen finden, sondern sie machen abseits vom Rotlichtmilieu diskrete Haus- und Hotelbesuche, ohne der Polizei unter die Augen zu kommen.
Allein diese 100.000 Prostituierten bilden bereits 25% der insgesamt 400.000, das heißt, die Zahl der Zwangsprostituierten kann schon mal gar nicht höher als 75% sein. Schätzen wir mal ganz grob, dass auch ähnlich viele junge Nicht-Studierende sich gern hin und wieder mal etwas hinzuverdienen möchten, um einen schönen Urlaub oder irgend eine Anschaffung finanzieren zu können, dann werden aus den 75% schon 50%.
Die Horrorzahlen von 95% können jedenfalls nicht stimmen.

Zu den Zahlenspielereien gehört auch die Methode, verschiedene Dinge in einen Topf zu werfen. So wird beklagt, dass viele Sexworker*innen einen großen Teil ihres Verdienstes wieder abgeben müssen, ohne dass dabei ein Unterschied gemacht wird, ob es sich um eine Zwangsprostituierte handelt, die von ihrem Zuhälter abkassiert wird, oder ob es sich um eine selbständige Sexworkerin handelt, die einfach nur die Miete für ihr Arbeitsetablissement bezahlen muss. Aber Hauptsache, man kann beeindruckend große Zahlen präsentieren, auch wenn die Realität dabei unter den Tisch fällt.

Eine weitere verlogene Zahlenspielerei ist das „Argument“, die Lebenserwartung einer Prostituierten würde bei 33 Jahren liegen. Diese Zahl stammt jedoch aus einer weltweiten Datenanalyse und sagt überhaupt nichts über die Verhältnisse in Deutschland aus. Im Gegenteil: würde in Deutschland das Nordische Modell eingeführt, dann würden die deutschen Prostituierten mit ihrer hohen Lebenserwartung aus dieser Statistik heraus fallen, und die durchschnittliche Lebenserwartung der übrigen Prostituierten weltweit würde infolgedessen noch niedriger sein.

2. Polemik

Wenn man Texte von Befürworter*innen des Nordischen Modells liest, fallen eine Reihe von plakativen Begriffen auf, die ständig wiederholt werden, auch wenn sie noch so falsch sind. Hier eine Auswahl:
Frauen verkaufen sich bzw. Frauen verkaufen ihren Körper
Das ist natürlich Unsinn, denn bei einem Kauf geht die Ware in den Besitz des Käufers über. Auch die Edelprostituierte Salomé Balthus sagte dazu ironisch „ich besitze immer noch alle meine Organe“. Was Sexworker*innen verkaufen, sind Dienstleistungen.
• Ex-Prostituierte werden als Überlebende bezeichnet

Dies wird damit begründet, dass die Zahl der Mordopfer unter Prostituierten weit über dem 10-fachen des Durchschnitts liegt. Dennoch handelt es sich absolut gesehen nur um einige wenige der 400.000 Prostituierten, die pro Jahr ermordet werden.
Bei dem Begriff „Überlebende“ denkt man meist an den Holocaust, den weniger als 10% der Betroffenen überlebt haben, oder man denkt an Flugzeugabstürze, wo es überhaupt keine Überlebende gibt. Aber das ist wahrscheinlich gerade der gewünschte Effekt, dass Prostitution mit deartig dramatischen Ereignissen assoziiert wird, obwohl weit über 99,99% der Sexworker*innen die Prostitution „überleben“.
• Als Folklore werden Darstellungen der Prostitution abgetan, die weit über das verengte Weltbild der Verfechter*innen des Nordischen Modells hinaus gehen.

Fragen, was genau mit dem Wort „Folklore“ ausgedrückt werden soll, werden nicht beantwortet. Es handelt sich demnach lediglich um eine inhaltsleere Kampffloskel.

Besonders der Begriff „Körperverkauf“ wird unablässig in die Köpfe der Menschen gehämmert. In einer Fernsehdiskussion sprach eine Verfechterin des Nordischen Modells vom Verkauf des Körpers, und ihre Kontrahentin, die Edelprostituierte Samomé Balthus erklärte ausführlich, warum dieser Begriff unzutreffend ist, aber schon kurze Zeit später fiel dieses Wort schon wieder. Gedankenlos, weil es bereits allzu fest in das Gehirn eingebrannt ist, oder absichtlich trotz besseren Wissens?

Für die Presse ist das ein gefundenes Fressen. Sie bedient sich sowieso gern Klischees und bedient Klischees, indem der Wahrheit hier und da ein wenig „nachgeholfen“ wird. So beklagen Frauen von der Organisation „Hydra“, dass ihre Zitate aus einem Interview verkürzt und aus dem Zusammenhang gerissen wurden, um das Klischee „alle Prostituierten sind Opfer“ darzustellen, und dabei sei unterschlagen worden, dass Hydra sehr wohl zwischen Menschenhandel und Sexarbeit differenziert (Quelle).

Polemisch sind auch Anfragen an Politiker, wie sie auf der Seite abgeordnetenwatch.de zu finden sind. Zum Beispiel: „Würden Sie jemandem ein Schnupperpraktikum in der Prostitution empfehlen?“
Logisch, dass die Antwort „nein“ lautet. Besonders, wenn die betreffende Person das 18. Lebensjahr noch nicht erreicht hat, wie es bei einem Schnupperpraktikum meist der Fall sein dürfte…

3. Besserwisserei

Die Verfechter*innen des Nordischen Modells wissen alles besser, und zwar besser als alle Betroffenen selbst. Das ist natürlich sehr einfach, wenn man eine Einheitsprostituierte und einen Einheitsfreier konstruiert, denn diese populistisch *) simplifizierten Klischeebilder haben alle die gleichen klischeehaften Gefühle, Gedanken und Vorstellungen, die Gegenstand diverser psychologischer Aufsätze sind.
Dass eine Zwangsprostituierte seelischen Schaden nimmt, ist so klar, dass es dafür keine psychologischen Aufsätze braucht. Psychologen sind aber darüber hinaus durchaus fähig, auch bei den freiwilligen und selbstbestimmten Sexworker*innen seelische Schäden zu verorten. Besonders raffiniert sind psychologische Konstruktionen, die darzustellen versuchen, warum selbst Masseurinnen seelische Schäden erleiden, sobald sie den Intimbereich eines Kunden mit der Hand berühren.
Die Betroffenen wissen zwar selbst gar nichts davon, aber das macht nichts, die Psycholog*innen wissen das natürlich viel besser. Notfalls ist in ihrer Kindheit etwas schief gelaufen, sodass sie nicht „normal“ denken und fühlen können – und was „normal“ ist, dafür beanspruchen die Verfechter*innen des Nordischen Modells sowieso die Definitionshoheit.
Dass alle Menschen Individuen sind, die verschieden denken, fühlen und erleben, ist eine viel zu komplizierte Vorstellung, die nicht zum Polemisieren taugt.

Es versteht sich von selbst, dass die Einheitsprostituierte unter Zwang arbeitet. Denn wenn sie kein Geld bekäme, würde sie das ja nicht tun. Sie verkauft sexuelle Dienstleistungen, weil sie unter den Zwang steht, Geld verdienen zu müssen. Und weil Zwang schlecht ist, ist auch Prostitution schlecht. Klingt so weit logisch, nicht wahr?
Aber welcher Müllwerker würde den ganzen Tag stinkende Container über die Straße rollen, wenn er kein Geld dafür bekäme? Welche Pfleger*in würde Pflegebedürftigen die Pampers wechseln, ohne finanziell entschädigt zu werden? Wir alle arbeiten, weil wir Geld brauchen. Auch wenn die Arbeit Spaß macht – von dem Spaß können wir nicht leben, kein Essen einkaufen etc. Wir alle stehen unter dem Zwang, Geld verdienen zu müssen. Warum sollen Sexworker*innen da eine Sonderstellung haben?

Ähnlich sieht es bei den Kund*innen aus. Man braucht nur mal in AO-Foren (AO = alles ohne = ohne Kondom) zu schauen, um zu wissen, dass sämtliche Männer heimliche Gewalt- und Unterdrückungsphantasien pflegen, egal ob sie den Straßenstrich frequentieren oder sich im 5-Sterne-Hotel besuchen lassen. Die Psycholog*innen durchschauen alles!

(Sorry wegen der Ironie, aber wirklich ernst nehmen kann man diese Besserwisserei nicht.)

*) Mehr über das Nordische Modell und Populismus

4. Illusionen und falsche Versprechungen

Den Verfechter*innen des Nordischen Modells ist klar: die Prostituierten müssen unbedingt „befreit“ werden. Ob sie wollen oder nicht, spielt keine Rolle, denn da sie ja alle traumatisiert werde, ohne es zu wissen, ist es besser für sie, wenn sie auch gegen ihren Willen zwangsbeglückt werden. Zu diesem Zweck werden so genannte Ausstiegshilfen versprochen.
Nun – versprechen kann man viel, wenn man sowieso andere in der Pflicht sieht, diese Versprechen einzulösen.
Oder wenn man weiß, dass viele der Betroffenen diese Versprechen überhaupt nicht beanspruchen wollen oder können. Die Kassiererin, die ihren Job kündigte, weil sie mit erotischen Massagen viel mehr Geld verdient, würde zähneknirschend versuchen, zu ihrem früheren Job zurück zu kehren. Die 100.000 Student*innen würden garantiert auch weiterhin verborgen bleiben, weil sie sonst zugeben müssten, monatelang Steuern hinterzogen zu haben (in diesem Fall wäre auch das Versprechen ungültig, Prostituierte würden straffrei bleiben). Ihr Studium würde dann wegen der Notwendigkeit, mit schlecht bezahlter Arbeit Geld zu verdienen, vermutlich mehrere Semester länger dauern, weil es keine andere Arbeit gibt, die ohne Ausbildung in so kurzer Zeit so viel Geld einbringt wie Sexarbeit.
Aber selbst wenn tatsächlich alle 400.000 Prostituierte Ausstiegshilfen beantragen würden: wie soll das denn funktionieren? Gibt es in Deutschland 400.000 freie Stellen, die nur darauf warten, von Ex-Prostituierten besetzt zu werden? Nein, ganz sicher nicht.
Es ist kein Wunder, dass es mit den versprochenen Ausstiegshilfen schon in Schweden nur mangelhaft geklappt hat und in Frankreich noch schlechter. Deshalb ist es völlig illusorisch zu glauben, dass es in Deutschland besser laufen würde, zumal wegen der Belastung der Staatskasse durch die Covid-19-Pandemie sowieso kein Geld zur Verfügung steht.
Das schlimmste jedoch ist das falsche Versprechen, dass den Zwangsprostituierten geholfen würde. Es glaubt doch wohl niemand, dass das Nordische Modell irgend einen Zuhälter veranlassen würde, seinen Sexsklavinnen die Pässe zurück zu geben und sie laufen zu lassen. Nein, die würden einfach in ein anderes Land verschoben und würden dort weiter ausgebeutet.

Fazit

Das Nordische Modell würde an den Zwangsprostituierten vorbei gehen, denen vorgeblich geholfen werden soll, und es würde vor allem die treffen, die es gar nicht wollen: die vielen freiwilligen und selbstbestimmten haupt- und nebenberuflichen Sexarbeiter*innen.
Das Nordische Modell gleicht eine grob und undurchdacht zusammengeschusterte Kiste, die auf sehr zweifelhaften und brüchigen Säulen steht.

Das hat sogar der Katholische Frauenverband durchschaut und lehnt ein Sexkaufverbot ab.

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